Was nicht gelehrt und gelernt werden kann


Von manchen Büchern weiß ich noch, wo ich sie zum ersten Mal gelesen habe. «Das Urteilen» von Hannah Arendt hatte ich beim ersten österreichischen Sozialforum 2003 in Hallein in der Hand und im Zug auf der Fahrt dahin und in den Pausen immer wieder darin gelesen. Vielleicht auch, weil ich es damals von jemandem bekommen habe, der meinte, es wäre das richtige Buch für mich. Ich könne Dinge beurteilen, ich hätte diese Fähigkeit der Urteilskraft, die nicht gelehrt und gelernt werden kann. Ich weiß nicht, ob dem so ist. Natürlich fühlte ich mich damals geschmeichelt, aber ich sehe das heute viel kritischer. Ich weiß nicht, ob ich die Dinge beurteilen kann, denke aber, dass es notwendig wäre.
Das Buch von Hannah Arendt lese ich immer noch. Immer wieder. Und gerade jetzt erscheint es mir sehr aktuell. Dabei ist es kein Buch, das Arendt noch selbst schreiben konnte. Sie hattte vor, als letzten Teil ihres Werkes «Vom Leben des Geistes», nach «Das Denken» und «Das Wollen», ein drittes Buch über das Urteilen zu schreiben. Sie starb, bevor sie es beginnen konnte. In ihrer Schreibmaschine fand sich nur ein Blatt mit dem Titel «On Judging» und darunter zwei Zitate.

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Es gibt Dinge, an denen bleibe ich hängen, weil sie mich beschäftigen. Wenn Hannah Arendt aus der Analyse des Geschmackurteils von Kant zu dem Schluss kommt, dass das Urteilen (als Beurteilen einer Situation) etwas ist, das nicht gelehrt und gelernt werden kann, so las ich das immer mit Zustimmung und großer Sympathie, wie etwas, das ich selber unterschreiben konnte. Es löste Erleichterung aus, wie alles Kritische auch etwas Lösendes und Befreiendes hat in dem Sinn: dass es so etwas gibt wie die Gemeinschaft der Denkenden.
Wenn jemand die gleichen Gedanken hat, entsteht eine Gemeinsamkeit, die schwer zu beschreiben ist, über Zeitgrenzen und mediale Grenzen hinweg. Das ist das Wichtige an Büchern: das Verstehen, die Verbindung und Zustimmung oder auch der Dissens, über Zeitgrenzen hinweg in einem Dialog zu stehen. Im Verstehen, wozu auch das Verstehen und Akzeptieren gegensätzlicher Meinungen gehört, befinden wir uns am gleichen Ort. Das ist etwas anderes als das bloße Aufeinanderprallen von Meinungen.
Wenn Meinung gegen Meinung steht, wird niemals das entstehen, was Arendt Urteilen nennt. Wer urteilt, muss fähig sein, die Standpunkte des Anderen in sein Urteil einzubeziehen. Deshalb bezieht es sich immer auf das, was mit Vielen geteilt wird, nie auf den Einzelnen.

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Eleonore Weber:
Landkarte im Maßstab 1:1
texte, skizzen, übersetzungen
deutsch / englisch
Nachwort: Readings of an openAI ChatGPT
15,0 x 21,0 cm, Klappenbroschur
330 Seiten, 15 farbige Abb.
Erschienen im Mai 2024
ISBN 978-3-903267-56-9